Die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen vor nunmehr vierzehn Tagen war ein Desaster für die SPD.  Hierüber kann bei einem Zweitstimmenverlust von fast acht Prozentpunkten kein Zweifel bestehen. Es war aber vor allem nicht der erste „Leberhaken“ für den „Boxer SPD“, wie es mit Ralf Stegner ein stellvertretender Bundesvorsitzender der Partei formulierte. Es war nach den Landtagswahlen im Saarland und in Schleswig-Holstein bereits die dritte herbe Enttäuschung in Folge, nachdem der Wechsel an der Parteispitze von Sigmar Gabriel zu Martin Schulz der nun schon seit geraumer Zeit präkomatösen Partei neuen Aufschwung und Hoffnung auf einen Überraschungserfolg bei den Bundestagswahlen im September 2017 gegeben hatte. Diese Häufung von Misserfolgen, bei denen die SPD zweimal sogar den „Amtsinhaberbonus“ nicht nutzen konnte, lässt zweifelhaft erscheinen, ob hier wirklich in erster Linie landespolitische Fragen ausschlaggebend waren, wie verbreitet – etwa in einer Anlayse der Heinrich-Böll-Stiftung – angenommen wird. Die Zusammenschau mit dem desolaten Zustand der SPD in den letzten Jahren und den sich zunehmend wieder verschlechternden Umfragewerten auch auf Bundesebene lässt vielmehr vermuten, dass die Partei ein substantielleres Problem hat. Die Frage ist also: Woran krankt die alte Tante SPD?

 

Brennpunkt soziale Gerechtigkeit?

Ein gängiges Erklärungsmuster lautet, die Partei habe mit der sog. „Agenda 2010“ ihre Stammwählerschaft verprellt und bis heute ihre Glaubwürdigkeit als Interessenvertreterin des „kleinen Mannes“ (und im 21. Jahrhundert wohl auch der „kleinen Frau“) nicht wiedergewonnen. Gerade der neue Parteivorsitzende hat deshalb eine Nachbesserung der Agenda angekündigt und dafür viel Zustimmung geerntet. Der Wähler honoriert das ausweislich der zurückliegenden Landtagswahlen und der neuen Umfragewert allerdings nicht. Fährt der Schulzzug also in die falsche Richtung, wie die FAZ plakativ formuliert hat?

Wählerverschiebung

Quelle: Wikipedia, eigene Darstellung

Einiges spricht dafür. Stellt man im Sinne einer ganz groben Näherung die Gewinne und Verluste der längerfristig etablierten politischen Parteien ins Verhältnis, fällt auf, dass die Verluste von SPD und GRÜNEN nicht etwa zu erheblichen Gewinnen der LINKEN geführt haben. Vielmehr haben CDU und FDP zusätzliche Wähler in einer ähnlichen Größenordnung an sich binden können. Es dürfte kaum anzunehmen sein, dass hierin der Wunsch nach einer stärkten Umverteilungspolitik im Sinne der Agenda-Kritiker zum Ausdruck kommt. Vielmehr legt diese Wählerverschiebung (auch wenn sie nicht mit einer unmittelbaren Wählerwanderung gleichzusetzen ist) die Annahme nahe, dass die SPD die Wahlen in der Mitte verloren hat. Es erscheint daher äußerst zweifelhaft, ob die SPD gut beraten ist, ihr politische Profil schwerpunktmäßig im Bereich der sozialen Gerechtigkeit zu schärfen. Den Wettbewerb um die großzügigsten Umverteilungsversprechen kann sie ohnehin gegen die LINKE nicht gewinnen.

Das bedeutet natürlich nicht, dass sich die SPD die soziale Gerechtigkeit, in der viele nach wie vor den Markenkern der Partei sehen, nicht weiterhin auf ihre Fahnen schreiben sollte. Sie müsste jedoch ihr beinahe schon masochistisches Verhältnis zur „Agenda 2010“ klären und die damaligen Reformen offensiv als großen Erfolg für sich reklamieren: Auch wenn der genaue Einfluss der Agenda umstritten ist und sich kaum objektiv quantifizieren lässt, kann die SPD jedenfalls auf die seither überaus positive wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland verweisen, in deren Folge zuletzt auch neue Beschäftigtenrekorde vermeldet wurden. Zugleich ist aber die Belastung von Arbeitseinkommen durch Steuern und Sozialabgaben nach einer OECD-Studie Presseberichten zufolge nur in einem Industrieland höher als in Deutschland: Fast die Hälfte eines Durchschnittseinkommens wird danach entsprechend abgeschöpft. Das Problem ist also nicht etwa, dass die Mehrzahl der Deutschen nicht über ein Arbeitseinkommen verfügt, also erst in Lohn und Brot gebracht werden müsste. Das Problem ist vielmehr, dass hiervon offensichtlich zu wenig übrig bleibt, obwohl gerade die durch die Sozialabgaben finanzierten Sozialsysteme gemeinhin als nicht hinreichend leistungsfähig angesehen werden.

Von daher sollte die SPD beim Thema soziale Gerechtigkeit nicht in erster Linie auf den Ausbau von Umverteilungssystemen setzen. Vielmehr sollte sie sich auf die Fahne schreiben, dass der Durchschnittsverdiener mehr von seinem oftmals hart erarbeiteten Einkommen behalten kann. Das entspräche nicht nur einem Menschenbild, bei dem der Bürger den Lohn der eigenen Hände Arbeit schon aus eigenem Selbstbewusstsein heraus staatlich zugeteilten Leistungen vorzieht. Es würde auch den Spielraum für zusätzliche Konsumausgaben  erhöhen und damit die Binnenkonjunktur ankurbeln. Das entspräche einer verbreiteten Forderung an die deutsche Politik und würde damit sowohl Arbeitsplätze schaffen als auch die Steuereinnahmen erhöhen. Strategisch wäre die SPD bei einer solchen Abkehr von einer paternalistischen Sozialpolitik, die oftmals mit der rechten Hand dem Bürger aufgrund komplizierter Mechanismen das wiedergibt, was sie ihm mit der linken Hand zuvor genommen hatte, nicht nur für ihre klassischen Wählerschichten attraktiv, für die mehr „Netto vom Brutto“ bliebe. Sie würde auch für diejenigen Einkommensschichten wieder interessant, die sich in den zurückliegenden Landtagswahlen CDU und FDP zugewandt hatten.

Weitere Baustellen

Aber auch jenseits einer solchen Neuakzentuierung des Strebens nach sozialer Gerechtigkeit dürfte die SPD viele Baustellen abzuräumen haben, wenn sie ihr Dauertief überwinden will. Sie muss in vielen Punkten zu einer klareren, widerspruchsfreien Position kommen und diese auch vermitteln können. Dabei wäre es wirtschaftspolitisch eine wahre „Agenda 2020“, wenn die SPD wieder stärker darauf setzen würde, gemeinsam mit der Wirtschaft – und nicht lediglich mit einigen wenigen Großunternehmen – die Wohlstandsbasis Deutschlands zu erweitern, und zwar nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ. Das setzt zum einen ein klares Bekenntnis zu einem echten Wettbewerb voraus und eine kritische Überprüfung bürokratischer Anforderungen an die hierzulande tätigen Unternehmen. Zum anderen würde es den Mut erfordern, negative externe Effekte – Umweltverschmutzungen, Verbrauch öffentlicher und/oder knapper Ressourcen usw. – stärker zu internalisieren, vereinfacht gesprochen: bestehende Privilegien gemeinschädlicher Branchen zugunsten nachhaltiger Sektoren abzuschaffen.

Finanzpolitisch gehört die Abschaffung der Abgeltungssteuer ganz oben auf die Agenda einer sozialdemokratischen Partei: Einkünfte aus Arbeit z. T. wesentlich höher zu besteuern als Einkünfte aus Kapitalerträgen ist trotz aller damit einhergehender Vereinfachung schlicht und ergreifend kein Ausweis eines gerechten Steuersystems. Auf der anderen Seite müsste sich die Erkenntnis durchsetzen, dass die „schwarze Null“ kein Fetisch des amtierenden Finanzministers, sondern gerade in konjunkturell guten Zeiten ein Gebot auch wirtschafts- und sozialpolitischer Vernunft und Gerechtigkeit gegenüber unseren Nachkommen ist: Jeden Cent Schuldzinsen, den man spart, braucht man nicht an Gläubiger(banken) zu zahlen, sondern kann ihn künftig für staatliche Investitionen, sozialpolitische Aufgaben und andere Vorhaben aufwenden. Die Zeiten, in denen konjunkturelle Schwäche zur weiteren Schuldenaufnahme zwingt, werden noch früh genug (wieder) kommen.

Im Bereich der inneren Sicherheit sind die Versuche, der Union (oder gar der AfD) den Rang abzulaufen, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Hier entspräche es dem Selbstverständnis einer Partei, die sich schützend gerade vor die schwachen Bürger stellt, diese vor Einschränkungen ihrer Grundrechte zu bewahren – und nicht selbst durch die Einführung und Ausweitung einer Vorratsdatenspeicherung die Freiheit der gesamten Bevölkerung zu beschneiden. Die konsequente Durchsetzung der bestehenden Gesetze durch eine angemessene (auch personelle) Ausstattung der Sicherheitsbehörden und der Justiz sollte für eine sozialdemokratische Partei Vorrang vor der Schaffung weiterer Straftatbestände und einer Delegierung zentraler Hoheitsaufgaben von demokratisch kontrollierten Exekutivorganen auf private Rechtsdurchsetzer haben (siehe auch den WWWelt-Blog-Beitrag vom 18. Mai 2017). Und im Bereich der Asylpolitik wäre ein klares Bekenntnis zum Schutz der Schwächsten, also der ganz überwiegenden Zahl der Flüchtlinge, die zeitgemäße Form der Solidarität mit den am Rande der Gesellschaft Lebenden. Zugleich wäre ein ausdrückliches Einstehen für die Hilfe- und Obdachsuchenden im Übrigen ein Appell an beste christliche und abendländische Traditionen, vor dem sich die eigentlichen (oder selbsternannten) Bannerträger dieser Werte rechtfertigen müssten, in deren Wahrnehmungsfokus die (unzweifelhaft auch vorhandenen) Bedrohungen stehen. Eine Partei der sozialen Gerechtigkeit darf sich nicht auf das Spiel einlassen, eine Gruppe Bedürftiger gegen andere Gruppen auszuspielen. Dem einen zu helfen heißt nicht, den anderen zu vernachlässigen.

Auf dem Feld der Außenpoltik schließlich hat die Wahl von Emmanuel Macron zum Präsidenten Frankreichs gerade erst gezeigt, dass man mit einer positiven Vision von Europa nach wie vor große Bevölkerungsteile begeistern, jedenfalls aber ansprechen kann. Martin Schulz, der die Mechanismen der EU so gut wie kaum ein anderer kennt, wäre in einer guten Ausgangslage, das Bild einer bürgernäheren, sozialeren und zukunftsfähigen Union zu entwerfen. Aber auch hier hat die SPD das Problem, in der öffentlichen Wahrnehmung jedweden gestalterischen Anspruch mit dem tatsächlichen Wirken in der Vergangenheit in Einklang zu bringen. Und dasselbe gilt für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik: Solange ein SPD-geführtes Außenministerium mit Unterstützung eines SPD-geführten Wirtschaftsministeriums Waffenexporte in (vornehmlich arabische) Krisenregionen zulässt oder sogar fördert, in denen Menschenrechte und demokratisch-rechtsstaatliche Ideale z. T. mit Füßen getreten werden, wird der Partei kaum jemand abnehmen, sich ernsthaft für Abrüstung und Entspannungspolitik einzusetzen.

Einklang von Handeln und Anspruch

Die in der Vergangenheit unter maßgeblicher Mitwirkung der SPD getroffenen Entscheidungen sind also ein schwerer Ballast für die Partei, um ihre politischen Ziele im Wahlkampf glaubwürdig vermitteln zu können. Sie kann dieses Dilemma nur überwinden, wenn sie beides miteinander in Einklang bringt. Dazu muss sie einerseits so manche Lebenslüge beerdigen, wie die Vorstellung, eine immer stärkere Umverteilung würde dem Allgemeinwohl dienen und soziale Gerechtigkeit fördern. Andererseits muss sie sich klar von so mancher Sünde der Vergangenheit distanzieren und den (auch sozialen) Wert der Freiheit wiederentdecken, sich für einen Schutz von Flüchtlingen in ihren Herkunftsregionen, aber eben auch bei uns in Deutschland engagieren, die deutsche Verantwortung für das Gelingen des Projektes einer Europäischen Union anerkennen und das außenpolitische Engagement für eine Abrüstungs- und Entspannungspolitik nicht unter einen Profitvorbehalt zugunsten der deutschen Rüstungsindustrie stellen. Eine solche SPD könnte wieder glaubwürdig für sich begeistern und dann auch Wahlen gewinnen. Sie sollte sich schnellstmöglich auf den Marsch begeben.

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Andreas Blohm

Andreas Blohm

Lebt als Vater von drei Kindern und arbeitet als Volljurist in Bonn. Politisch und musikalisch gleichermaßen interessiert wie untalentiert. Bloggt hier unregelmäßig über Banales und Basales.