Schon seit längerer Zeit werden die Betreiber sozialer Netze im Allgemeinen und der Kurznachrichtendienst Twitter im Besonderen dafür kritisiert, gegen möglicherweise problematische Beiträge und ihre Urheber in einer intransparenten, in der Sache kaum nachvollziehbaren Art und Weise vorzugehen. Eine gesetzgeberische Reaktion darauf war das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG), das hier auch schon des Öfteren Thema gewesen ist (siehe zuletzt den WWWelt-Beitrag vom 6. Juli 2017). Seit Anfang Mai 2019 häufen sich nun Fälle, in denen Twitter-Nutzer gesperrt werden, weil sie gegen die unternehmensinterne „Richtlinie zur Integrität von Wahlen“ verstoßen haben sollen. Diese neue Praxis wurde unter dem Hashtag „#twittersperrt“ diskutiert. Sie wird u. a. in einem Blog-Beitrag von Rechtsanwalt Thomas Stadler– der ebenfalls von einer solchen Sperre betroffen war – gut dargestellt. Jetzt hat es auch mich erwischt. Wegen eines Tweets zum „Eurovision Song Contest“. Und es ist genauso absurd, wie es klingt.
Der Tweet
Am 18. Mai 2019 haben wir – auf rätselhaften und unprovzierten Wunsch der Töchter – einen gemütlichen Familienfernsehabend mit der Übertragung des „Eurovision Song Contest“ verbracht. Ich habe währenddessen immer wieder getwittert, zumeist unter dem Hashtag „#ESC2019“. U. a. habe ich dann während der Abstimmungsphase den folgenden Tweet abgesetzt, in ironischer Anspielung auf die eingangs erwähnte Diskussion um die fragwürdigen Twitter-Sperrungen:
Da es beim „European Song Contest“ keine „Wahlzettel“ gibt, sondern ausschließlich per Telefon oder SMS bzw. mittels einer speziellen App abgestimmt werden kann, handelte es sich offensichtlich um einen satirischen Beitrag. Insbesondere konnte auch niemand in seinem Abstimmungsverhalten beeinträchtigt werden.
Die Sperre
Aus heiterem Himmel erhielt ich dann am gestrigen Sonntag, den 26. Mai 2019, gegen 18 Uhr eine elektronische Nachricht von Twitter, dass mein „Account … wegen eines Verstoßes gegen die Twitter Regeln gesperrt“ worden sei. Insbesondere liege ein „Verstoß gegen [die] Regeln zum Veröffentlichen von irreführenden Informationen zu Wahlen“ vor. Ich solle „auf Twitter [gehen], um das Problem mit [m]einem Account zu lösen“.
Einen Klick später bekam ich über die Twitter-App die Information, dass ich zwar Twitter noch nutzen, aber keine Tweets mehr absetzen könne. Lediglich mit meinen „Followern“ könne ich noch Nachrichten austauschen. Diese Maßnahme solle für eine Zeit von 12 Stunden gelten. Ich habe aber die Möglichkeit, gegen die Sperrung Einspruch einzulegen.
Diese Möglichkeit habe ich ergriffen. Das hatte zur Folge, dass mein Twitter-Konto vollständig geperrt wurde. Mir ist es also seither nicht mehr möglich, Twitter zu nutzen. Auch die ansonsten eröffnete Möglichkeit, meinen „Followern“ Direktnachrichten zu schicken, besteht seither nicht mehr. Über meinen Einspruch ist bislang (Montag, 27. Mai 2019, 11 Uhr) nicht entschieden worden.
Großzügig wird mir aber angeboten, den Einpruch zurückzuziehen und den beanstandeten Tweet zu löschen, um wieder Zugriff auf mein Konto zu erhalten. Von diesem „Angebot“ habe ich keinen Gebrauch gemacht und beabsichtige es auch nicht.
Rechtswidrigkeit der Beanstandung
Denn bei aller natürlichen Befangenheit in eigener Sache: Der von Twitter beanstandete Tweet verstößt offensichtlich nicht gegen die Regeln des Kurznachrichtendienst zur Integrität von Wahlen. Beim ESC handelt es sich nicht um eine „Wahl“ im Sinne dieser Richtlinie. Diese zielt ausschließlich auf den Schutz von politischen Willensbetätigungen, nicht aber auf beliebige Abstimmungen wie eben bei Musikveranstaltungen, Schönheitswettbewerben oder anderen Trivialaktionen ohne Relevanz für die demokratische Willensbildung.
Das kommt beispielsweise darin zum Ausdruck, dass die Twitter-Richtlinie zum Schutz von Wahlen sich ausdrücklich auf „Informationen über Politik oder politische Ereignisse“ bezieht. Informationen zur Abstimmung beim ESC sind keine Informationen über Politik oder politische Ereignisse. Die ganze Richtlinie durchzieht das offensichtliche Verständnis, dass sie staatliche Abstimmungen schützen möchte, die in amtlich festgelegter Art und Weise sowie zumindest auch in Wahllokalen erfolgen. All das trifft auf die Abstimmung beim ESC nicht zu.
Ganz deutlich wird der Umstand, dass die Twitter-Richtlinie zum Schutz der Integrität von Wahlen auf den ESC nicht anwendbar ist, schließlich bei den dort angegebenen Beispielen für irreführende Informationen zur Teilnahme an Wahlen. Als irreführend gilt danach nämlich u. a. die Behauptung, „dass es möglich ist, per Tweet, SMS, E-Mail oder Telefon abzustimmen“. Das ist bei staatlichen Wahlen in der Tat unzulässig. Die Abstimmung beim ESC erfolgt aber gerade per Telefon oder SMS und über eine spezielle App.
Es kommt daher gar nicht einmal darauf an, dass es jedenfalls keinen „Wahlzettel“ gibt, den man unterschreiben könnte. Es bestand also zu keinem Zeitpunkt die Gefahr, dass durch meinen Tweet jemand – und sei er auch noch so leichtgläubig – zu einem falschen Abstimmungsverhalten angehalten worden wäre. Aber selbst wenn man auch das ausblenden würde: Anders als bei staatlichen Wahlen, bei denen wegen des Wahlgeheimnisses persönliche Kennzeichnungen von Wahlzetteln nicht zulässig sind, gibt es für die ESC-Abstimmung eine solche Regel nicht. Im Gegenteil: Die Stimmabgabe beim ESC erfolgt unter Nutzung von individualisierbaren Telekommunikationskennzeichnungen (Telefonnummer, IP-Adresse), die jedenfalls einem konkreten Anschluss zugeordnet werden können. Das Verbot einer persönlichen Kennzeichnung der Stimmabgabe gilt bei der Abstimmung beim ESC also nicht. Selbst wenn man der abwegigen Ansicht wäre, die Twitter-Richtlinie zur Integrität für Wahlen würde auch für Abstimmungen beim ESC gelten, läge keine irreführende Information vor. Twitter hat meinen – ohnehin ersichtlich satirischen – Tweet also zu Unrecht beanstandet.
Rechtswidrigkeit der Sperre
Doch selbst, wenn man das – warum auch immer – anders sehen sollte, wäre jedenfalls die erfolgte Sperrung meines Kontos rechtswidrig. Das ergibt sich u. a. aus Folgendem:
Ich bin seit zehn Jahren Twitter-Nutzer. Seit dieser Zeit nutzt Twitter meine Daten im Rahmen des Nutzungsvertrages für seine eigenen Unternehmenszwecke. Ein redlicher Vertragspartner hätte mir deshalb vor der Beanstandung des Tweets, zumindest aber vor einer Einschränkung meines Kontos die Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Auf diese Weise hätte ich jedenfalls die Sperre verhindern können. Eine derartige Pflicht zur Rücksichtnahme auf meine Interessen als Vertragspartner von Twitter lag umso näher, als bislang noch kein Beitrag von mir als unzulässig eingestuft wurde. Im Übrigen gehen auch die Gesetzesmaterialien zum NetzDG ausdrücklich davon aus, dass „es geboten sein [kann], den betroffenen Nutzern vor einer Entscheidung zur Entfernung oder Zugangssperrung Gelegenheit zur Stellungnahme einzuräumen“ (Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz, BT-Drs. 18/13013, 14, 20). Dieser Verpflichtung ist Twitter nicht nachgekommen.
Zur Beseitigung des vermeintlichen Regelverstoßes wäre überdies eine Sperrung oder Löschung des beanstandeten Tweets ausreichend gewesen. Für die weitergehenden Zugangsbeschränkungen gibt es keine sachliche Rechtfertigung. Das gilt jedenfalls für die komplette Sperrung des Zugangs nach Einlegung des Einspruchs. Eine solche Vorgehensweise erscheint vielmehr als deutlich überschießende Sanktion, mit der die Nutzer davon abgehalten werden sollen, die einseitigen Entscheidungen von Twitter als ihrem Vertragspartner überprüfen zu lassen.
Zu guter Letzt ist auch zweifelhaft, ob die Richtlinie zur Integrität von Wahlen, auf die Twitter seine Maßnahmen stützt, überhaupt wirksam Gegenstand des Nutzungsverhältnisses geworden ist. Rechtsanwalt Stadler verneint diese Frage in seinem oben zitierten Beitrag beispielsweise mit guten Gründen. Ohne vertragliche Grundlage kann sich Twitter aber per senicht einseitig von seinen vertraglichen Pflichten mir gegenüber lösen, indem das Unternehmen mir den Zugriff auf mein Konto verweigert.
Aber mit dem NetzDG hat das nichts zu tun!?
Obwohl die Folgen, mit denen ich mich jetzt konfrontiert sehe, den Folgen ähneln, die das NetzDG vorsieht, hat der Fall – wie alle Sperrungen, die aufgrund vermeintlicher Verstöße gegen die RIchtlinie zur Integrität von Wahlen erfolgt sind – mit diesem Gesetz tatsächlich unmittelbar nichts zu tun. Die Verbreitung irreführender Informationen zu Wahlen zählt als solche nicht zu den vom NetzDG erfassten Tatbeständen. Es scheint also, als könnten die zahlreichen Fehlentscheidungen, die Twitter in Umsetzung seiner neuen Richtlinie zur Integrität von Wahlen in jüngster Zeit unterlaufen sind, nicht als (rechtspolitische) Argumente gegen das nach wie vor umstrittene NetzDG herhalten.
Mit einer solchen Annahme würde man aber übersehen, dass einer der Hauptkritikpunkt gegen das NetzDG selbst in der deutlich verbesserten Fassung, die es im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens erhalten hat, gerade darin liegt, dass die Konstruktion dieses Gesetzes den „Bock zum Gärtner“ macht, wie es Prof. Dr. Christoph Degenhart formuliert hat (siehe ausführlicher den WWWelt-Beitrag vom 18. Juni 2017). Gerade die Erfahrung mit den „#twittersperrt“-Exzessen zeigt, dass der (twitter-) blaue Bock genau die Schwierigkeiten hat, (selbst evident) zulässige von unzulässigen Inhalten zu unterscheiden, die man in der Diskussion um das NetzDG befürchtet hatte. Die Folge ist eine deutlich überschießende Sperrpraxis („Overblocking“), die zulasten der Meinungsäußerungsfreiheit geht. Das kann auch bei der rechtlichen Bewertung des NetzDG nicht außer Betracht bleiben und ist umso ärgerlicher, als regelmäßig Fälle dokumentiert werden, in denen Twitter sich weigert (evident) rechtswidrige Inhalte zu sperren.
Und wie geht es nun weiter?
Über meinen Einspruch ist nach wie vor (Montag, 27. Mai 2019, 11 Uhr) nicht entschieden. Auch mit Blick auf beruflich anstehende Aufgaben gebe ich Twitter noch ein wenig Zeit, zu einem rechtmäßigen Vertragsverhalten zurückzukehren. Dann werde ich das Unternehmen abmahnen. Hierfür hat Christian Säfken eine – wie ich meine – sehr gute Anleitung verfasst, an der ich mich im Wesentlichen orientieren werde. In jedem Fall werde ich an dieser Stelle durch Ergänzungen des Beitrages über den Fortgang berichten. Denn eins steht fest: Mit seinem Schutz der ESC-Abstimmung hat Twitter einen gehörigen Bock geschossen.
Nachtrag 29. Mai 2019
Seit gestern Mittag ist mein Twitter-Konto wieder entsperrt. Auch der beanstandete Tweet ist wieder öffentlich verfügbar:
Wer jetzt noch beim #ESC2019 abstimmt, bitte nicht vergessen, den Wahlzettel zu unterschreiben!
— Andreas Blohm (@AndreasBlohm) May 18, 2019
Wie kam es dazu?
Unterstützung gesucht und gefunden
Da mir der private Zugriff auf Twitter versperrt war, habe ich noch am Montag, den 27. Mai 2019, ein paar Mitglieder meiner dortigen „Timeline“ gebeten, einen kurzen Hinweis auf meinen Blog-Beitrag zu twittern, auch damit der (kleine, aber feine :-)) Kreis meiner dortigen „Follower“ weiß, dass und warum von mir nichts mehr zu lesen ist. Diese Bitte um Unterstützung war erfolgreich, so dass ich auch an dieser Stelle insbesondere
@Saefken, @Tipjip und @Telemedicus
ganz herzlich danken möchte, aber auch den vielen anderen Twitterern, die den Hinweis auf meine Sperrung und den Blog-Beitrag weitergeleitet und/oder unterstützt haben.
Abmahnung
Nachdem am Morgen des 28. Mai 2019 mein Twitter-Konto nach wie vor gesperrt war, habe ich, wie angekündigt, eine Abmahnung verfasst. Dabei habe ich mich, ebenfalls wie angekündigt, an der vorzüglichen Vorlage von Christian Säfken orientiert. Bei der rechtlichen Bewertung habe ich aber – wie es meinem Hang zur eher breiten Form entspricht … – noch deutlich ausführlicher formuliert. Außerdem habe ich am Ende auf die Verzugsfolgen und die geplante Einschaltung eines Anwalts hingewiesen (zu der es auch tatsächlich gekommen wäre, hätten sich die Dinge anders entwickelt als dann geschehen). Der Text meiner Abmahnung kann hier – geschwärzt um die Telekommunikationsdaten und meine Unterschrift – abgerufen werden.
Als weitaus komplizierter erwies sich der Versuch, das dreiseitige Schreiben per Telefax an Twitter zu übermitteln. In rund einem Dutzend Versuche wurden bestenfalls die ersten beiden Seiten übermittelt. Möglicherweise schlägt hier der Charakter als Kurznachrichtendienst auch auf die klassischen Telekommunikationsanschlüsse durch. Am Ende wurden weitere Verbindungsversuche von der Gegenstelle in der Twitter-Firmenzentrale sofort abgewiesen.
Ich habe die Sache daher erst einmal ein wenig liegenlassen und dann gegen 12 Uhr einen weiteren Faxversand versucht, diesmal per Soft-Fax. Dabei hatte ich natürlich zuvor geprüft, ob die Sperre noch aktiv ist, was der Fall war. Noch während das Soft-Fax übermittelt wurde, war mein Konto jedoch plötzlich wieder verfügbar – mit bestem Dank von Twitter dafür, dass ich mich des Problems angenommen habe. (Gerne.) Ob jetzt mein Einspruch vom Sonntag oder die teilweise übermittelte Abmahnung vom Vormittag ursächlich für die Entsperrung war, entzieht sich meiner Kenntnis. Auch hier bleibt Twitter seiner Linie völliger Intransparenz treu.
Wer hat den Tweet gemeldet?
Die nächste Überraschung und der nächste Dank von Twitter warteten dann in der nach zwei Tagen Sperre überquellenden Benachrichtigungsliste auf mich. Twitter bedankte sich bei mir, dass ich meinen Tweet und mein Konto als unzulässig gemeldet hätte:
Das ist natürlich hanebüchener Unsinn. Auch andere Twitter-Nutzer, die wegen eines vermeintlichen Verstoßes gegen die Richtlinie zur Integrität von Wahlen gesperrt worden waren, haben von ähnlichen Falschmeldungen berichtet.
Es bleibt damit die Frage, wer den Tweet wirklich als missbräuchlich gemeldet hat. Jedenfalls berühmt sich ein Nutzer namens „Hort der Schande“, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, „Erfolge bei der Meldung von linker Hetze“ zu sammeln und zu verbreiten, mit der Sperrung in Verbindung zu stehen:
Nun spricht es zwar für sich, wenn rechtsdrehende Nutzer, die selbst nicht den Mut haben, sich persönlich der Diskussion zu stellen, ihresgleichen offensichtlich für so kognitiv limitiert halten, dass diese durch einen Scherz über die (unmögliche) Unterzeichnung (nicht existierender) Wahlzettel zum ESC zu einer ungültigen Stimmabgabe (gar bei einer echten Wahl) verleitet werden könnten. Dunkel bleibt jedoch, wie man selbst auf Grundlage eines fragilen Selbstbewusstseins die Sperrung eines Tweets, der sich über das Sperrverhalten von Twitter lustig macht, als Maßnahme gegen „links“ (weil: „#linxstinx“) oder die Antifa (weil: „#fckntf“) abfeiern kann. Endgültig schizophren wird die Sache, wenn dieses angebliche Vorgehen gehen (vermeintlich) linke und antifaschistische Umtriebe zugleich aber auch selbst als antifaschistisch (weil: „#fckfcsm“) bezeichnet wird. Bedauerlich ist nur, dass sich Twitter jetzt schon seit einiger Zeit zum Handlanger entsprechend disponierter Querulanten machen lässt. Es bleibt zu hoffen, dass sich das schnellstmöglich ändert. Betroffene bleiben jedenfalls aufgerufen, sich gegen entsprechende Maßnahmen zur Wehr zu setzen.
Andreas Blohm
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