Nach über zwei Monaten, in denen das öffentliche Leben in Deutschland ganz maßgeblich vom Umgang mit der COVID-19-Pandemie („Corona“) geprägt wurde, macht sich zunehmend Unbehagen über die Einschränkungen bemerkbar, die zur Eindämmung des Virus ergriffen wurden. Am vergangenen Wochenende gab es mehrere Demonstrationen mit einigen Tausend  Teilnehmern, u. a. in Stuttgart und München. Ähnliche Veranstaltungen sind für dieses Wochenende erneut angekündigt. Die Demonstranten wenden sich gegen die in der Tat zum Teil massiven Grundrechtseingriffe, die mit den getroffenen Maßnahmen einhergehen. Damit lösen sie zwar zum einen – auch spöttische – Kritik („Covidioten“) aus. Zum anderen finden sie aber auch Gehör und Verständnis. In Wirklichkeit handelt es sich um ein Lehrstück über Freiheit und Verantwortung.

Die Gefährlichkeit von Corona wird völlig übertrieben. Die Krankheit ist nicht schlimmer als die jährliche Grippewelle.“

Richtig ist, dass sich nach wie vor nicht abschließend sagen lässt, wie gefährlich COVID-19 wirklich ist. Es kann sein, dass sich die Krankheit letzten Endes als nicht so gefährlich herausstellt, wie zum Teil befürchtet wird. Aber:

  1. Es gibt in vielen Ländern – wenn auch derzeit nicht in Deutschland – klare Hinweise auf eine deutliche Übersterblichkeit, die mit der COVID-19-Pandemie jedenfalls korreliert. (Siehe etwa den The-Economist-Beitrag „Tracking covid-19 excess deaths across countries“ v. 16.4.2020.) Das ist zwar kein Beweis, aber durchaus ein Indiz für eine besondere Gefährlichkeit von COVID-19. Die möglichen Gründe für ein solches Risikopotential sind bekannt: Es folgt insbesondere aus der fehlenden Grundimmunisierung der Bevölkerung und einem im Vergleich auch zur Grippe deutlich höheren Ansteckungsrisiko.
  2. Der Vergleich mit der saisonalen Grippe ist darüber hinaus von vornherein unsinnig. Denn bei COVID-19 wurden anders als bei einer Grippewelle weltweit umfassende Schutzmaßnahmen ergriffen. Würden zu Beginn einer Grippewelle sämtliche Veranstaltungen abgesagt, Schulen und Geschäfte geschlossen sowie weitere effektive Eindämmungsmaßnahmen getroffen, dürfte die Zahl der Grippetoten wesentlich geringer ausfallen. Die Grippe mit COVID-19 zu vergleichen ist ein Vergleich zwischen Äpfeln und Nashörnern.
  3. Man konnte – und kann nach wie vor – nicht wissen, wie gefährlich COVID-19 wirklich ist. Es musste also eine Entscheidung in einer Situation der Unsicherheit getroffen werden. Anfang März war eine exponentielle Ausbreitung des COVID-19-Erregers zu verzeichnen. Zugleich lagen alarmierende Berichte nicht nur aus Italien, sondern auch aus China vor. Wenn selbst ein Land wie die Volksrepublik unter Inkaufnahme wirtschaftlicher Einbußen drastische Maßnahmen ergreift, um den Erreger einzudämmen, ist das ein Warnzeichen. Denn üblicherweise haben dort individuelle Menschenrechte in der Abwägung mit wirtschaftlichem Erfolg nicht denselben Stellenwert wie in Europa, Die Politik hätte das ignorieren können, wie auch die dann folgende Entwicklung in Italien. Wie das ausgegangen wäre, lässt sich jetzt naturgemäß nicht sagen. (Die Entwicklung in den USA lässt aber vermuten: nicht gut.) Entscheidend ist: Angesichts der Erfahrungen aus anderen, früher betroffenen Ländern musste man mit einer dramatischen Entwicklung rechnen.

Darüber hinaus ist der relativierende Vergleich mit der Grippe ohnehin irreführend: Eine verantwortungsvolle Politik kann doch nicht darin bestehen, eine Gefahr für das Leben von Hunderten, Tausenden oder gar Zehntausenden einfach hinzunehmen, nur weil es auch andere solche Gefahren gibt. Wenn man aus dem Vergleich überhaupt eine Konsequenz ziehen wollte, dann müsste es doch eher die sein, künftig auch der Eindämmung von Grippewellen mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden. Denkbar wären insoweit ohne weiteres etwa finanzielle Anreize für Grippeimpfungen, Empfehlungen für Alltagsmasken im ÖPNV während der „Grippesaison“ oder andere nicht zwangsweise Maßnahmen.

Die Corona-Maßnahmen sind massive Grundrechtseingriffe! Es muss Menschen geben, die sich für unsere Freiheiten einsetzen!“

Ja. Aber:

  1. Man kann die Corona-Maßnahmen auch kritisieren, ohne dass man sich für längere Zeit unter mehrere Tausend andere Menschen begibt. Aber selbst dann ist es für Kritik an staatlichen Maßnahmen nicht erforderlich, den Mindestabstand zu missachten und demonstrativ auf Alltags- oder sonstige Schutzmasken zu verzichten. (Klar, es gibt auch Demonstranten, die sich hier verantwortungsvoller gezeigt haben. Aber es gibt eben auch sehr, sehr viele, die sich genau so verhalten haben.) Es wäre natürlich schön, wenn das am Ende kein Problem sein sollte, weil COVID-19 gar nicht so gefährlich ist oder die Pandemie bereits irreversibel abebbt. Das wissen wir aber nicht – und auch die Kritiker der Corona-Maßnahmen können das nicht wirklich wissen.
  2. Geht man verantwortungsbewusst davon aus, dass die Warnungen der Virologen berechtigt sind, dann gefährden die Demonstrationen, wie wir sie zuletzt in Stuttgart und München gesehen haben, den bisher erreichten Erfolg. Sie sind damit ein offener Affront für alle, die in den vergangenen zwei Monaten erhebliche Einschränkungen (Bürger) und Anstrengungen (Beschäftigte im Gesundheitswesen usw.) auf sich genommen haben, um das Virus einzudämmen.  Die Demonstranten von Fridays for Future haben sich mit Blick auf COVID-19 beispielsweise für ihren politischen Einsatz weitestgehend ins Netz verlagert. Auch den Protest gegen die Corona-Maßnahmen könnte man auf entsprechend verantwortungsbewusste Weise artikulieren und so die Freiheiten der anderen schützen.
  3. Die implizite Annahme, hier würden dauerhafte Freiheitsbeschränkungen getroffen, die niemand kontrolliert, ist geradezu grotesk:
    • Zum einen haben zahlreiche Gerichte die Maßnahmen kontrolliert. Dabei wurde ein Teil der Maßnahmen als übermäßiger Eingriff in Freiheitsrechte gekippt, ein anderer Teil aber auch als rechtmäßig bestätigt.
    • Und zum anderen erfolgen die Proteste just in einem Moment, in dem die ursprünglich getroffenen Maßnahmen massiv gelockert wurden. Die Politik hat also ihr Versprechen, die Maßnahmen laufend zu evaluieren und nicht mehr angemessene Beschränkungen aufzuheben, nachweislich und in erheblichem Umfang wahrgemacht.
  4. Und natürlich darf dieser Überprüfungs- und Lockerungsprozess nicht einfach enden. Dafür gibt es aber auch überhaupt keine Anzeichen. Inwieweit er tatsächlich fortgeschrieben werden kann, hängt dabei auch von dem weiteren Verlauf der Pandemie ab. Und den kennt derzeit niemand mit Sicherheit. Es bleibt also bei Entscheidungen unter Ungewissheit. Ein möglichst schonendes Mittel, um diese Unsicherheit zu verringern, ist dabei genau das schrittweise Vorgehen, das die Politik derzeit verfolgt. Das gilt auch, wenn man selbst nicht mit jedem einzelnen Schritt einverstanden sein mag.

Die Demonstrationen sind auch nicht gefährlicher als der tägliche Supermarkteinkauf durch Millionen Menschen!“

Das ist evident falsch. Im Supermarkt stehen nicht Tausende Wildfremder über längere Zeiträume dicht nebeneinander – und das unter Umständen auch noch ohne Alltags- oder sonstige Schutzmaske.

Freiheit und Verantwortung

Unsere Freiheit, unsere Grundrechte sind von allerhöchstem Wert. Sie zu schützen und zu wahren ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt und sollte auch gesellschaftliche Selbstverpflichtung sind. Freiheitsausübung erfolgt jedoch nicht im luftleeren Raum. Sie kann nur dann zu guten gesamtgesellschaftlichen Ergebnissen führen, wenn sie auf die Freiheiten anderer Bedacht nimmt. Dies wird in äußeren Grenzen durch gesetzliche Regeln sichergestellt. Schon diese Grenzen hat ein beachtlicher Teil derjenigen missachtet, die am vergangenen Wochenende ohne Mindestabstand und Alltagsmaske gegen die Corona-Maßnahmen demonstriert haben.

Ein verantwortungsbewusster Umgang mit der eigenen Freiheit endet darüber hinaus aber auch nicht erst dort, wo sich rechtliche Verbote finden. Man spricht insoweit etwas altmodisch auch von „Rücksicht“ und „Anstand“. Die COVID-19-Pandemie wurde völlig zu Recht von Anfang an auch als gesellschaftliche Herausforderung verstanden, die nur gemeistert werden kann, wenn sich der Einzelne verantwortungsbewusst verhält. Das verlangt jedem Selbstbeschränkung und auch Geduld ab. Dabei trifft es einige natürlich mehr und härter als andere. Deshalb sind Kompensationen und Entschädigungen unverzichtbar. Zu solcher Selbstbeschränkung demgegenüber gar nicht erst bereit zu sein, sondern im Gegenteil durch sein eigenes Verhalten ein Wiederaufflackern der Epidemie in Kauf zu nehmen, ist jedoch das Gegenteil von Verantwortungsbewusstsein. Es ist letzten Endes sogar freiheitsfeindlich, da es in diesem Zuge auch die Gefährdung der Freiheit aller anderen in Kauf nimmt.

 

 

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Andreas Blohm

Andreas Blohm

Lebt als Vater von drei Kindern und arbeitet als Volljurist in Bonn. Politisch und musikalisch gleichermaßen interessiert wie untalentiert. Bloggt hier unregelmäßig über Banales und Basales.